Um eine Vergütung für Überstunden einzuklagen, muss der Arbeitnehmer beweisen, dass er Mehrarbeit geleistet und der Arbeitgeber die Überstunden zumindest geduldet hat. Ein Arbeitsgericht wollte die Beweislast zugunsten der Arbeitnehmer verschieben, wenn der Arbeitgeber die Arbeitszeiten nicht präzise erfasst. Das ist allerdings rechtlich nicht haltbar, so nun das Bundesarbeitsgericht (BAG).
Das war der Fall
Vor dem Arbeitsgericht Emden hatte ein Auslieferungsfahrer auf eine Vergütung von rund 5200 Euro für knapp 350 Überstunden geklagt. Diese ergaben sich rechnerisch, weil der Arbeitgeber nur Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit erfasste, aber keine Pausen oder Ruhezeiten. Der Fahrer behauptete, er habe über einen Zeitraum von 1 1/2 Jahren gar keine Pausen nehmen können, weil er sonst seine Aufträge nicht hätte erfüllen können.
Das beklagte Unternehmen hatte dies bestritten und die Zahlung der Überstunden verweigert. Das ArbG Emden hatte den Arbeitgeber zur Zahlung verurteilt (ArbG Emden 20.2.2020 – 2 Ca 94/19). In der Berufung hob das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen das Urteil überwiegend auf, der Arbeitgeber musste nur für unstreitige 78 Stunden zahlen, die er als Überstunden anerkannt hatte (LAG Niedersachsen, 06.05.2021, 5 Sa 1292/20).
Das LAG argumentierte, selbst wenn man zugunsten des Klägers unterstelle, er habe die von ihm behauptete Arbeitszeit tatsächlich geleistet, fehle es an Beweisen für eine Anordnung, betriebliche Notwendigkeit oder Duldung der Überstunden seitens des Arbeitgebers. Dass der Arbeitgeber die Pausenzeiten nicht separat erfasst habe, ändere nichts an der Beweislastverteilung im Überstundenprozess.
Das sagt das BAG
Dieser Rechtsauffassung schloss sich nun auch das Bundesarbeitsegericht an: Es genüge nicht, wenn der Arbeitnehmer sich pauschal auf Zeitaufzeichnungen des Arbeitgebers berufe. Vielmehr bleibe es dabei, dass der Arbeitgeber Überstunden nur dann vergüten müsse, wenn der Beschäftigte belegen kann, dass er Mehrarbeit geleistet oder sich dazu auf Weisung bereitgehalten habe. Zudem müsse der Arbeitgeber die Überstunden „angeordnet, geduldet oder nachträglich gebilligt haben.
Hintergrund: Stechuhr-Urteil des EuGH
Das BAG sah – anders als das ArbG Emden – im so genannten „Stechuhr-Urteil“ des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) keinen Anlass, seine Rechtsprechung zu ändern. 2019 hatte der EuGH festgestellt, dass die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die Arbeitgeber verpflichten müssen, die tägliche Arbeitszeiten und Pausen ihrer Beschäftigten systematisch zu erfassen ( vom 14.5.2019 – C-55/18, Rechtssache »CCOO«). Das ergebe sich unmittelbar aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der EU-Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG vom 4.11.2003). Die Entscheidung des EuGH erging aufgrund der Klage einer Gewerkschaft in Spanien gegen eine Tochtergesellschaft der Deutschen Bank.
Der deutsche Gesetzgeber hat das EuGH-Urteil bislang nicht umgesetzt. Während die Gewerkschaften das Urteil als Stärkung der Zeiterfassung begrüßten, kritisierten Arbeitgeberverbände das Urteil als „Rückfall in Stechuhr-Zeiten“ und „Ende der Vertrauensarbeitszeit“.
BAG: Keine Verschiebung der Beweislast
Das Arbeitsgericht Emden war der Ansicht, das EuGH-Urteil ergäbe für Arbeitnehmer unmittelbare Erleichterungen beim Nachweis von Überstunden. Habe der Arbeitgeber, wie im entschiedenen Fall, kein präzises System zur Kontrolle aller Arbeitszeiten und Pausen eingeführt, müsse er nachweisen, dass der Beschäftigte nicht über die gesamte aufgezeichnete Zeitspanne gearbeitet habe.
Das BAG sieht dies, wie zuvor das LAG Niedersachsen, anders: Die Arbeitszeitrichtlinie und die Charta beträfen den auf den Arbeits- und Gesundheitsschutz, fänden aber keine Anwendung auf die Vergütung der Arbeitnehmer. Die unionsrechtlich begründete Pflicht zur Messung der täglichen Arbeitszeit habe deshalb keine Auswirkung auf die für Deutschland entwickelten Grundsätze über die Beweislast in einem Prozess um Überstundenvergütung.
Hinweis für die Praxis
Damit hat das BAG dem Bemühen, das EuGH-Urteil von 2019 für eine Stärkung der Arbeitszeiterfassung in Deutschland nutzbar zu machen, eine Absage erteilt.Da in der Praxis kein Betrieb die Zeiterfassung nur zu Arbeitsschutzzwecken durchführt, sondern immer auch als Kontrolle, ob die für den Lohn geschuldete Arbeitsleistung erbracht wird, erscheint die Differenzierung, die das BAG vornimmt, eher künstlich. Eine Rechtspflicht zur präzisen Arbeitszeiterfassung zu schaffen und durchzusetzen, bleibt daher Bringschuld der Politik.
© bund-verlag.de (ck)
Quelle
BAG (04.05.2022)
Aktenzeichen 5 AZR 359/21
BAG, Pressemitteilung vom 4.5.202