Interkulturell kompetent: Wie Kommunikation über Grenzen hinweg gelingt
Annelie Tattenberg ist Expertin für interkulturelle Kommunikation – und eine Brückenbauerin mit Herz und Haltung. Im Interview spricht sie über kulturelle Prägungen, herausfordernde Situationen im Ausland und darüber, wie wir durch bewusste Kommunikation Missverständnisse vermeiden und ein respektvolles Miteinander fördern können. Für Betriebsräte besonders relevant: Interkulturelle Kompetenz ist kein „Nice-to-have“, sondern ein Schlüssel für gelingende Zusammenarbeit in vielfältigen Teams.
Kristin von der IGBCE BWS: Annelie, wie bist du zur interkulturellen Kommunikation gekommen? Gab es für dich ein Schlüsselerlebnis?
Annelie: Nein. Für mich gab es kein Schlüsselerlebnis. Ich war schon immer gerne in verschiedenen Welten unterwegs und habe gerne Sprachen gesprochen. Seit ein paar Wochen bin ich in der WhatsApp-Gruppe meiner ehemaligen 5. Klasse. Meine damaligen Mitschüler*innen schrieben mir zur Begrüßung in der Gruppe, ich sei für sie immer eine Brückenbauerin gewesen, die in Konflikten oder zwischen unterschiedlichen Parteien vermittelt hätte. Zu vermitteln, geht nicht ohne interkulturelle Kommunikation. Damals scheine ich sehr intuitiv einiges richtig gemacht zu haben, später wollte ich mehr über interkulturelle Kommunikation wissen und bildete mich weiter.
Das Umfeld, in dem wir aufgewachsen sind und das uns zu dem Menschen gemacht hat, der wir heute sind, prägt unsere Denk-, Kommunikations- und Handlungsmusterund beeinflusst unbewusst unsere Wahrnehmung. Ich nenne das unsere kulturelle Brille. Durch diese Brille nehmen wir die Welt wahr. Die Brillenträger*innen unter uns wissen, dass, wenn wir die Brille mit anderen Brillenträger*innen tauschen, wir mit der fremden Brille nie genauso gut sehen können wie mit unserer eigenen. Wir nehmen uns selten Zeit, über unsere kulturelle Brille und unsere Prägung nachzudenken. Dabei würden zum Beispiel die Reflexion über unsere Art, zu kommunizieren, und das Erlernen von interkultureller Kommunikation helfen, Missverständnisse zu vermeiden.
Interkulturelle Kommunikation ermöglicht es, zielgruppenorientiert und diplomatisch zu kommunizieren. Sie ist also wichtig, weil sie uns hilft, einander wirklich zu verstehen, Brücken zwischen Menschen, die unterschiedlich sind, zu bauen und ein respektvolles Miteinander in einer vielfältigen Welt zu ermöglichen.
Kristin von der IGBCE BWS: Du hast bereits viel von der Welt gesehen und hast mit deiner Familie im Ausland gelebt. Welche Kulturen haben deine Sichtweise auf Kommunikation besonders geprägt?
Annelie: Das kann ich gar nicht genau sagen. Ich spreche ja fünf verschiedene Sprachen und würde sagen, dass alle Sprachen, die ich bisher gelernt, und die Kulturen, mit denen ich mich beschäftigt habe, Einfluss auf meine Sichtweise auf Kommunikation haben. Hinzu kommt, dass ich mittlerweile mit Menschen aus mehr als 95 Ländern rund um den Globus zusammengearbeitet habe, auch das beeinflusst meine Kommunikation. Und nicht zu vergessen: die unterschiedlichen Generationen, die auch manchmal ihr ganz eigenes Vokabular haben.
Kristin von der IGBCE BWS: Was war deine herausforderndste interkulturelle Situation, die du bisher selbst erlebt hast?
Annelie: Ich geriet im Ausland in eine Polizeikontrolle. Die Polizisten wollten Geld von mir, obwohl ich nichts falsch gemacht hatte. Ich war in einem Wohngebiet unterwegs, als ich am Straßenrand weit vor mir Polizisten stehen sah. Mein Wagen fiel auf und so hielten die Polizisten auch mich an. Sie kontrollierten meinen Führerschein und die Fahrzeugpapiere. Anschließend prüften sie, ob ich ein Warndreieck und eine Warnweste im Auto hatte. Nachdem sie alles geprüft hatten, beanstandeten sie meinen alten, grauen deutschen Führerschein und forderten ein Bußgeld von 60 Euro von mir. Sie sagten mir in ihrer Landessprache, ich dürfe damit nicht mehr fahren. Da ich aber wusste, dass ich sehr wohl mit diesem Führerschein fahren durfte, begann ich eine Diskussion mit den Polizisten. Ich sagte zum Beispiel, dass ich in einem EU-Land sei und erst vor Kurzem mit meinem Führerschein sowohl in Kanada als auch in den USA gefahren wäre. Da meine Argumente nicht den von mir erhofften Erfolg brachten und die Polizisten nicht nachgaben, wechselte ich ins Englische in der Hoffnung, dass die beiden Polizisten keine Lust hätten, mit mir in einer Fremdsprache zu sprechen. Bei einem der beiden war es auch so und so blieb ich mit einem Polizisten zurück, während der andere vorbeifahrende Autos anhielt.
Nach minutenlanger Diskussion darüber, ob das Bußgeld rechtmäßig sei oder nicht, lenkte ich ein und bat den Polizisten um eine Quittung. Nun begann eine Diskussion darüber, in welcher Reihenfolge wir das handhaben sollten. Der Polizist wollte erst das Geld und mir dann die Quittung aushändigen. Ich bestand darauf, erst dann zu zahlen, wenn er die Quittung ausgestellt hätte. Da ich hartnäckig blieb und auf das Ausstellen der Quittung beharrte, bevor ich ihm das Geld geben würde, lenkte jetzt der Polizist ein. Er wies mich nun freundlich darauf hin, dringend meinen Führerschein im Land umtragen zu lassen, und ich durfte endlich, ohne zu bezahlen, weiterfahren. Dadurch, dass ich auf einer Quittung bestanden habe, habe ich indirekt kommuniziert, dass ich wüsste, dass es keine sachliche Grundlage für das Bußgeld geben würde und das Geld das spärliche Gehalt der Polizisten aufbessern sollte.
Diese interkulturelle Herausforderung zu meistern, ohne zu zahlen und dennoch nicht zu eskalieren, sondern die Sache gesichtswahrend für die Polizisten zu beenden, war eine der herausforderndsten interkulturellen Situationen, die ich bisher erlebt habe. Ohne Kenntnis der Wirkmechanismen der interkulturellen Kommunikation und die Anwendung in dieser Situation wäre mir das nicht gelungen.
Kristin von der IGBCE BWS: Wie machst du interkulturelle Kommunikation in deinen Seminaren erlebbar? Und wie gehst du mit Widerständen oder Vorurteilen um, die in Seminaren aufkommen können?
Annelie: Interkulturelle Kommunikation mache ich durch Praxisbeispiele der Teilnehmer*innen oder Beispiele aus meiner Praxis erlebbar. Gerade in der interkulturellen Kommunikation geht es nicht nur darum, wie ich etwas gemeint habe, sondern besonders darum, wie es bei der anderen Person angekommen ist. Das besprechen wir in meinen Seminaren sehr ausführlich.
Für Vorurteile braucht man sich nicht zu schämen, sie sind menschlich. Wir alle haben sie, auch wenn wir uns wünschten, dem wäre nicht so. Sich der eigenen Vorurteile bewusst zu werden, ist ein erster wichtiger Schritt, um sie aufzulösen.
Nach meinem Verständnis sind auftretende Widerstände in Seminaren eine Bereicherung, von der alle profitieren – auch ich. Nur wenn alle Perspektiven berücksichtigt werden und auch Widerständen Raum gegeben wird, gelingen ein Leben und ein Arbeiten in Vielfalt. Ich schätze es, wenn auch kontrovers diskutiert wird und ein echter Dialog entsteht.
Kristin von der IGBCE BWS: Wie hat sich das Bewusstsein für interkulturelle Kommunikation in den letzten Jahren verändert? Und welche Rolle spielt sie in Zeiten globaler Krisen oder zunehmender Migration?
Annelie: Ich bin nicht sicher, ob sich das Bewusstsein für interkulturelle Kommunikation wirklich verändert hat. Persönlich glaube ich, dass das Potenzial für interkulturelle Kommunikation in weiten Teilen der Gesellschaft, den Organisationen und der Politik noch gar nicht erkannt wurde. Denn unsere Gesellschaft ist gar nicht so homogen, wie manche vielleicht glauben. Viele Gastarbeiterinnen, Geflüchtete, Vertriebene, Spätaussiedlerinnen und seit einigen Jahren auch Menschen aus der EU (aufgrund der Niederlassungsfreiheit) sind nach Deutschland gekommen, um hier zu leben und zu arbeiten. Deutschland ist also schon lange ein Einwanderungsland und Migration kein neues Phänomen. Aber nicht nur Menschen, die aus dem Ausland nach Deutschland gekommen sind, haben unsere Gesellschaft schon längst verändert, sondern auch die Wiedervereinigung, die Globalisierung, die vielen Auslandsreisen usw. Wer interkulturelle Kommunikation beherrscht, kann sich sicher in unterschiedlichen Kontexten bewegen und ist sensibilisiert dafür, Situationen auch aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen. Das ist insbesondere in Zeiten von globalen Krisen hilfreich.
Kristin von der IGBCE BWS: Gibt es etwas, das du den Leser*innen mitgeben möchtest?
Annelie: Gerne: Habt keine Angst, Fehler zu machen – Fehler sind etwas Menschliches. Interkulturelle Kommunikation kann Türen öffnen, die für einen sonst verschlossen, geblieben wären.
Kristin von der IGBCE BWS: Liebe Annelie, vielen Dank für das spannende Gespräch und die persönlichen Einblicke in deine Arbeit zur interkulturellen Kommunikation. Es war wirklich interessant und bereichernd, mit dir zu sprechen.
Mehr Hintergründe und Tipps rund um interkulturelle Kommunikation findest du in unserem Artikel zum Thema. Diesen findest du hier.
Ihre Seminare findest du hier
Interkulturelle Kommunikation in Gremien und im Betrieb – Gemeinsam stark – erfolgreich verhandeln und kommunizieren in kulturell vielfältigen Teams
→ 23.11.–26.11.2025 • Bad Münder • BWS-001-757701-25
→ 19.04. – 22.04.2026 • Bad Münder • BWS-001-757701-26
Kristin Kühn, Erschienen in Ausgabe 6 vom Navigator am 18.08.2025
Titelbild: © Thomas Sasse